Süßes oder Saures
Schreibwettbewerb zu Halloween
Herzlichen Glückwunsch!
1. Platz
Das Erbstück im Apfelkuchen
Von Luisa van Es
Eine runde märchenhafte Geschichte mit mehreren Ebenen: das Waisenhaus (mit einer Leiterin, unter der die Hauptfigur leidet), die vor langer Zeit verlorenen Eltern, die Halloweennacht, der verlorene Ring und der Nachlassverwalter der Eltern, all dies wird in der Geschichte zusammengeführt und zu einem Happy End gebracht. Gelungen!
2. Platz
Halloween
Von Rosalie Rotter
Eine kleine geradlinig erzählte Fantasy-Geschichte mit märchenhaften Zügen und einem glücklichen Ende. Schön.
3. Platz
Der dritte Platz geht an zwei Geschichten: "Das alte Maison Haus" und "Folge dem Leuchten!".
Von Michél Krien und von Lisa Abel
Beide Geschichten zeigen, dass die Auto*innen es verstehen, Spannung zu erzeugen. Doch jede Spannung muss erklärt werden, woher, wieso, warum. Weil aber die Spannungsituationen bei beiden Geschichten sehr gelungen sind, geht der dritte Platz an beide.
Die Tür öffnete sich. Die Augen der Frau, so leuchtend braun wie die meine, ihr Blick, so kurz und warm war er. Warum war es mir nicht eher aufgefallen? Diese Ähnlichkeit diese Wärme in ihren Augen, die selbst nach Wochen noch mein Herz erwärmte…
Meine Eltern waren gestorben als ich noch jung war, so jung, dass ich mich an sie nicht mehr erinnern konnte. Nur durch ein Foto, dass ich bei mir trug, wusste ich wie sie aussahen. Mein Vater hatte kurzes, blondes Haar und dunkle, grüne Augen. Ich kam nach meiner Mutter, lange, schwarze Haare, die bei jeder Bewegung glänzten und diese braunen, leuchtenden Augen. Sie trug auf dem Bild einen dicken, goldenen Ring. Ich wusste das es sich um das Erbstück der Familie handelte, doch es war seit Jahren verschollen. Zu gern hätte ich sie kennengelernt. Solange ich zurück denken konnte, lebte ich im Waisenhaus Tristesse. „ Blut ist dicker als Wasser, komm ja nicht in Versuchung, mich „Mutter“ zu nennen, kleines Mädchen!“ Das waren die ersten Worte, die Mme Rocher, meine
grausame Pflegemutter zu mir sagte. Sie war eine Witwe und der Tod ihres
Mannes schickte ihr hartes Herz in die Kälte des Nordpols. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, die gemeine Frau Mutter zu nennen. Ständig bezeichnete sie mich als hässlich und nutzlos und da sich das Waisenhaus keine Hilfskräfte leisten konnte, musste ich als älteste aushelfen. Ich musste mich um das Essen kümmern, putzen und auf die jüngeren aufpassen. Danach hatte ich nie Zeit für mich und wenn, dann wäre ich für alles nach all der ganzen Arbeit zu müde. Freunde hatte ich kaum, da die meisten im Waisenhaus Tristesse zu jung für mich waren. Manchmal erzählten ich und Machelle uns gegenseitig Geschichten, bis spät in die Nacht. Machelle war zwei Jahre jünger als ich, aber wir verstanden uns
ziemlich gut. Einmal erwischte Mme Rocher uns dabei, wie wir uns mitten in der Nacht Geschichten erzählten. Sie riss Machelle aus dem Zimmer
und verbot uns ganze zwei Wochen miteinander zu sprechen.
Da kam mir die Idee. Die Idee, von der ich ziemlich sicher war, sie auf jeden Fall zu bereuen. Trotzdem hielt ich daran fest.
Ich drückte Machelles knochige, blasse Hand. Wir rannten hüpfend durch das kalte, grüne Gras, dass uns an den Beinen kitzelte. Mein Herz pochte so doll wie nie zuvor und mir war, als würde ich auch Machelles Herz rattern hören, und doch lachten und kicherten wir in die Nacht hinein. Wir hatten uns Asche aus dem alten Kamin im Wohnzimmer unter die Augen gerieben und uns weiße Tücher umgelegt. Schön unheimlich wollten wir aussehen,wie Gespenster. Da Mme Rocher bei ihrer Nachtwache auf ihrem Stuhl eingeschlafen war, konnten wir uns heimlich an ihr vorbei schleichen und in die Stadt laufen. Erlaubt hätte sie das nie! Mit einem dreckigem Strohkorb, welchen wir gemeinsam am ausgefransten Henkel trugen, klingelten wir also an dem ersten Haus. Die Tür öffnete sich und wir riefen kichernd: „ Süßes oder Saures!“ Die alte Frau hatte ein gutes Herz und gab jedem von uns eine in goldener Folie verpackte Praline. Machelle und ich beschlossen, sie sofort zu essen. Ich biss immer nur winzige Stücke ab, um länger etwas davon zu haben. Machelle hingegen steckte sie sofort in den Mund und kaute glücklich mit vollen Backen. Je tiefer wir in die Stadt liefen, desto mehr Kindern, die ebenfalls auf der Jagd nach Süßigkeiten waren, begegneten wir. Allesamt trugen prächtige Kostüme, sodass ich mich wegen meiner alten Tücher und der Asche in meinem Gesicht schämte. Machelle aber zog mich immer weiter und weiter. Irgendwann waren wir am Waldrand angekommen. Ich war mit meiner Ausbeute längst zufrieden doch Machelle zerrte an meinem Arm. „ Schau mal, dort!“, rief sie und zeigte in den Wald. Jetzt sah ich es auch. Wenn man genau hinsah, konnte man zwischen den ganzen Bäumen in der Ferne ein leichtes Lichtlein leuchten sehen. Ein Haus mitten im Wald. Machelle zupfte an einem meiner Tücher. „ Da war bestimmt noch kein einziges Kind!“, gluckste sie. Ich konnte auch verstehen, warum dort noch kein Kind war. Ich hatte auch kein besonders großes Verlangen mitten in der Nacht durch den dunklen Wald zu spazieren, doch Machelle zog mich schon hinterher. Wir stapften durch das gelb, braune Laub, dass unter unseren Füßen knisterte. Es war ein kleines, gemütliches Haus mitten im Wald und es war, als sei es etwas ganz besonderes. Ich klingelte und eine schöne Melodie ertönte. Es öffnete sich die Tür einen kleinen Spalt. Da geschah es. Die braunen, leuchtenden Augen, die mich durch den dünnen Spalt ansahen… Man konnte sie kaum durch den kleinen Spalt erkennen, doch es handelte sich deutlich um eine alte Frau. Machelle knuffte mich und riss mich dadurch aus meiner Trance. Wir riefen: „ Süßes oder Saures!“ Zumindest dachte ich das. Machelles Stimme war kaum zu überhören, doch ich bin
mir nicht sicher, ob aus meinem Mund auch nur ein einziger Ton heraus kam. Die Frau lachte leise und mein Herz machte einen kleinen Hüpfer, als sie uns zwei warme Stücke Apfelkuchen reichte. Ich vergaß ganz mich zu bedanken als die Tür sich wieder schloss. Wir drehten uns um und liefen zurück. Machelle stopfte sich sofort das Stück Kuchen in den Mund, doch ich grübelte. Wo hatte ich diese Augen schon einmal gesehen? Da blieb ich ruckartig stehen, sodass Machelle aufhörte und mich verständnislos ansah. Ich wirbelte herum und rannte zurück zum Haus im Wald.
„ Mamaaaaaaaa!“, schrie ich so laut, dass mir in der Kehle kalt wurde. Ich rannte und rannte, doch als ich ankam… war das Licht erloschen. Dort wo das Haus einmal lag, wurzelte nun eine große alte Fichte. Ich knickte zusammen und weinte bitterlich. Zum einen vor Angst und zum anderen vor Ärger. „ Nanu?“, hörte ich Machelle hinter mir. „Wo ist denn… wo ist denn d-das H-haus…?!“ Sie umarmte mich und mir kullerten weitere Tränen über die Wangen. Den ganzen Rückweg schaute ich zu Boden, mit den Gedanken bei meiner Mutter. „ Was meintest du eigentlich mit Mama?“ , fragte Machelle. Als sie merkte, dass diese Frage unangemessen gewesen war, räusperte sie sich. „ Tut mir leid… möchtest du nicht mal deinen Kuchen essen? Er ist bestimmt schon kalt.“ Der Kuchen! Ich musterte ihn in meinen Händen, brach ihn in zwei und reichte Machelle
die eine Hälfte. Ich biss in mein Stück und kaute, aber nicht lange. „ AU!“ Ich spuckte etwas goldenes, rundes in meine Hand. Ein Ring. Das Erbstück! Es war seit Jahren verschollen gewesen und nun steckte es in meinem Stück Apfelkuchen. Da wurde mir alles klar. Das Haus im Wald, meine Mutter… Ich hielt den Ring in den Schein des Mondes und all die Brillanten, Smaragde und Rubinen glänzten und blitzten. „ Danke“, flüsterte ich. Nun war auch Machelle der Ring in meiner Hand aufgefallen.
„Wooow“, hauchte sie, „aber, da ist ja noch ein Briefumschlag im Korb. Wo kommt der denn her?“ Ich öffnete ihn und in ihm steckte ein Kärtchen auf dem ein Name und eine Adresse im Ort stand. Wir beschlossen, dort vorbeizuschauen und liefen sofort los. Angekommen klopften wir an und standen vor einem älteren Herrn, der ziemlich überrascht über unseren späten Besuch war und sich als Anwalt meiner Eltern herausstellte. Der verwaltete das Erbe und hatte mich schon jahrelang gesucht. Doch aus unverständlichen Gründen, fand er mich nicht.
Er wurde mein Vormund und half mir, das Waisenhaus zu kaufen und zu sanieren. Mme Rocher verschwand ebenso, wie das Haus im Wald. Ab sofort hieß das Waisenhaus nicht mehr Tristesse sondern wurde in Heureux (Glücklich) unbenannt. Einige Male lief ich zurück in den Wald um nach dem Haus und meine Mutter zu sehen, doch sie kam nie zurück. Den Ring trage ich seither.
Die Tür fiel zu und meine Freundin Lara und ich machten uns auf den Weg zum nächsten Haus, um dort zu klingeln und nach Süßigkeiten zu fragen. Es gab nur noch ein Haus in der Straße. „Das ist wohl das Letzte“, sagte Lara. „Ich freue mich schon auf den Halloween- Film! Wollen wir ihn gleich direkt gucken?“ Ich lachte, „okay, aber erst noch dieses Haus.“ Als Lara und ich durch den Weg im Vorgarten zur Tür des Hauses liefen, fiel mir erst auf, wie groß und prächtig es war. Aus den Fenstern leuchteten uns Gespenster- und Skelett-Sticker entgegen. Als ich auf die altmodische Klingel drückte, öffnete keiner. „Ist wohl keiner da. Wollen wir gehen?“, fragte ich. Lara nickte. Aber plötzlich wurde die Tür doch noch geöffnet. Eine alte Frau machte auf. Sie hatte weißes, schulterlanges Haar und trug ein langes, hellgraues Kleid, welches mit kleinen Blümchen bestickt war. Irgendwie erinnerte sie mich an eine Fee. „Süßes sonst gibts Saures!“, riefen wir. Die Frau lächelte. „Ich sollte noch etwas daheim haben. „Dann verschwand sie im Haus. Lara und ich sahen uns an und ich wusste, dass sie dasselbe dachte wie ich. „An irgendetwas erinnert sie mich“, flüsterte sie mir zu. Bevor ich etwas antworten konnte, kam die Frau wieder. Sie hielt eine Schachtel in der Hand. Vielleicht waren Pralinen darin. Sie gab mir die Schachtel und ich legte sie in meinen Beutel. Lara und ich bedankten und verabschiedeten uns. Die Frau lächelte nur und ließ die Tür zufallen. Plötzlich waren alle leuchtenden Halloweendekorationen aus. „Das war ja komisch“, stellte Lara fest. Ich stimmte ihr zu. Irgendetwas verunsicherte mich an dieser Frau. „Hast du die Frau schon mal hier in der Gegend gesehen?“, fragte ich. Lara verneinte. „Seltsam, aber egal.“ Als meine beste Freundin und ich bei mir zu Hause angekommen waren, machten wir uns Essen, nahmen uns unsere Beutel, und setzten uns vor den Fernseher. Plötzlich bemerkte ich, dass in meinem Beutel etwas hell leuchtete. Lara hatte es auch bemerkt. „Was ist das?“, fragte sie. „Keine Ahnung“, erwiderte ich und schaute nach. Es war die Schachtel, die uns die alte Frau gegeben hatte. Ich klappte sie auf und das Licht wurde so grell, dass ich die Schachtel wegwarf. Als das Leuchten aufgehört hatte, sah mich Lara verblüfft an. „Was war das denn?“ Wir krochen nach vorne und schauten uns die Box an, die durch das Wegwerfen zugeklappt war. Lara nahm die Schachtel und öffnete sie. Heraus kam eine kleine Gestalt. Sie war blau schillernd und sah aus wie ein kleiner Drache. Sie hatte einen Schweif, der in einem eigenartigen violetten Feuer endete. Auch beim Kopf des kleinen Wesens ging das Blau in das seltsame Feuer über. „Oh mein Gott!“, stieß Lara aus. „Was ist das denn!?“ Ich nahm das Wesen und legte es vorsichtig auf meine Hand. Es schien zu schlafen. „Guck mal, da ist ein Zettel!“, rief Lara. Sie fischte ein kleines Papierstückchen aus dem Kästchen. Darauf stand: Rettet ihn! „Was soll das denn heißen?“, fragte Lara verwirrt. „Weiß ich auch nicht“, antwortete ich. „Was sollen wir jetzt machen?“ wollte ich wissen. „Lass uns jetzt den Film gucken und das Wesen dabei etwas beobachten“, schlug Lara vor.
Ich stimmte zu.
Am nächsten Morgen trafen Lara und ich uns vor dem Haus der alten Frau. In meiner Tasche hatte ich die Schachtel, in dem das Wesen noch immer schlief. Ich klingelte an der Tür, aber niemand öffnete. Auch das Licht im Haus war aus. Plötzlich bemerkte ich einen Zettel, der unter dem Briefkasten klebte. Ich nahm ihn und las ihn vor: „Ihr müsst ihm helfen! Ich kann dies nicht mehr. Findet das Mondkraut!“ Unter dem Zettel klebte noch eine Liste. Lara und ich gingen wieder zu mir nach Hause. Als wir da waren, nahmen wir die Liste und das Wesen raus. In der Liste stand, dass das Wesen sehr krank war und wir ihm helfen könnten, in dem wir bei Vollmond in einen Wald gehen und dort Mondkraut pflücken. „Wann ist der nächste Vollmond?“ fragte ich. Lara schaute im Internet. „Übermorgen“. „Wollen wir es machen?“, fragte ich. Lara bejahte. Zwei Tage später machten Lara und ich uns auf den Weg in den Wald. Dort angekommen suchten wir nach dem Mondkraut. Irgendwann sahen wir etwas hinter einem Baum. Wir schauten nach und wussten, dass es das Mondkraut sein musste. Ich pflückte es und wir gingen wieder nach Hause. Als wir in der Küche waren, nahmen wir das Kraut und kochten es. Die entstandene Flüssigkeit träufelten wir dem Wesen in den Mund. „Da passiert doch gar nichts“, stellte Lara fest. Aber plötzlich öffnete es die Augen. „Es ist aufgewacht!“, freuten wir uns. Das Wesen war anscheinend sehr dankbar. Es lief auf meine Hand und spuckte ein kleines Feuerwerk. 10 Minuten später standen wir vor der Tür der alten Frau. Lara klingelte. Die Frau öffnete sofort. „Habt ihr ihn gerettet?“, fragte sie. „Ja, haben wir“, sagte ich und gab ihr das Wesen. „Ich bin euch unendlich dankbar“, sagte sie. Sie wollte uns etwas Geld geben, aber wir lehnten es ab und gingen nach Hause. Lara und ich waren sehr glücklich und wir freuten uns. Am nächsten Tag wollten wir die Frau nochmal besuchen, aber sie war nicht da. Vor der Haustür stand ein Schild, auf dem zu verkaufen geschrieben stand. Wir fragten die Nachbarn, aber keiner wusste etwas über sie. Wir schauten oft nach, aber die Frau war nicht mehr da und wir sahen sie nie mehr. Wir hätten so gerne gewusst, was aus dem Wesen geworden ist.
Verkleidet von Tür zu Tür zu gehen und dort nach „Süßes sonst gibts Saures“ zu fragen war etwas für kleine Kinder, deswegen hatte sich Mia überlegt, zusammen mit den anderen in das alte Maison Haus hinterm Hügel tief im Wald zu gehen. Bei ihnen in der Kleinstadt kursierte schon seit vielen Jahren ein Gerücht, dass es in diesem Hause spuken soll. Es gab sogar schon Berichte im Fernsehen und in der Zeitung über vermisste Menschen, allein durch diese Berichte gewann das Gerücht stetig mehr an Macht. Die Eltern von Mia, Sophia, Mitsch und Jack sagten ihnen es jedes Jahr, dass es tabu wäre, dort hinzugehen, vor allem in der Nacht von Halloween. Wenn die Kids unter sich waren, lachten sich spöttisch über ihre Eltern, denn wie konnte man immer noch Angst vor solche Horrorgeschichten haben. Jack und Mia waren seit 5 Jahren Anfang der Highschool bereits ein Paar. Mitsch und Sophia kannten sich nicht persönlich und heute sollte ihr erstes Kennenlernen stattfinden, deswegen schlug Mia die Mutprobe im alten Maison Haus vor, denn dort könnte man sich näherkommen. Der Vater von Jack ist der Sheriff in dieser kleinen Vorstadt, aus diesem Grund genoss er Narrenfreiheit und konnte sich viele Freiheiten erlauben. Er konnte problemlos Alkohol und viele andere Dinge besorgen, obwohl er noch nicht die Volljährigkeit erreicht hatte. Mitsch ahnte Mias Vorhaben und machte sich heute besonders hübsch für Sophia, denn er auch er hatte Interesse an ihr. Um 18:30 Uhr geht die Sonne unter, deswegen verabredet sie sich gemeinsam um 21 Uhr bei totaler Finsternis im Wald vor der dem alten Maison Haus.
„Habt ihr den Alkohol und die Taschenlampen dabei?“, fragte Sophia in die Runde und sah dabei den gutaussehenden Mitsch. „Hier jeder nimmt sich eine Taschenlampe und einen Becher, dann stoßen wir erst mal an und erkunden dann dieses alte klapprige Haus. Mein Vater hatte heute so viel zu tun, dass er heute bei Halloween das Maison Haus nicht erwähnte, und das ist wirklich seltsam, weil er das jedes Jahr immer und immer erwähnt.“, erzählte Jack und verteilte die Becher und holte eine Flasche aus der Innentasche seiner Jacke heraus. Anschließend schüttete er in jeden dieser Becher den Alkohol und schrie jeder solle es auf ex austrinken. Das Zeug war so stark, dass Mitsch anfing zu husten und sich nur noch fragte, was dort wohl drin sei. Jack haute ihn auf dem Rücken und flüsterte ihn ins Ohr, dass er sich wie ein Mann verhalten soll. Sophia war die ganze Zeit still und schaute nur auf das dunkle Haus vor ihnen. „Ist es wirklich richtig, ohne Erlaubnis unserer Eltern in das Maison Haus zu gehen?“, fragte sie mit leicht ängstlicher Stimme. „Der Sheriff predigt doch immer ...“. Mia unterbrach Sophia, indem sie ihren Mund mit ihrer Hand zuhielt und mit der anderen Hand mehr Alkohol in den Becher schüttete. „Ich gehe voraus, ihr Angsthasen geht einfach hinter mir“, gab Jack von sich und übernahm die Führung ohne jegliche Furcht. Mitsch war ein bisschen eifersüchtig, da Jack immer der bessere von ihnen beide war. Selbst jetzt punktete er.
Knarrend öffnet sich die Tür und alle traten in die Schwelle eines dunklen Flures. Selbst das Licht wurde von der Dunkelheit verschlungen, dass es dem Lichtkegel unmöglich machte bis an die Wand zukommen. „Jetzt ehrlich Leute, wir können ruhig nach Hause gehen“, sprach Sophia erneut. Mitsch ergriff die Chance und versuchte ihr Mut zu machen, und es funktionierte. Die Wände waren aus modrigem Holz und jeder Schritt löste ein fürchterliches Schreien des Holzes aus. Als sie eine Art Wohnzimmer erreicht haben, schauten sie sich um. Ein lautes Knallen ertönte hinter ihnen, was Sophia und Mia zum Schreien veranlasste und dabei fiel ihnen aus Schreck die Taschenlampe herunter. „Was war das gerade?“, flüsterte Mia ganz leise und hob ihre Taschenlampe auf. Auch Sophia hob ihre Taschenlampe auf und musste leider feststellen, dass sie beim Sturz kaputt gegangen war. „Leute, ich habe genug!“, Sophia wurde zunehmen panischer, „ich will nur noch nach Hause. Mitsch bitte bring mich hier raus“. Sophia sprach den Gedanken aus, den jeder bis auf Jack dachte. Mitsch reichte Sophia die Hand und zog sie zu sich, da sie keine Taschenlampe mehr hatte. „Okay, das war ja mal gar nichts, dann lasst uns wieder nach Hause gehen“, sichtlich enttäuscht ging Jack wieder voraus und ging zum Ausgang. Sophia fing mittlerweile schon an zu weinen und konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten, diese gruselige Situation war überhaupt nichts für sie. „Hör endlich auf zu heulen“, meckerte Jack, „sieh, dort ist endlich der Ausgang.“ Die Tür allerdings war verschlossen, deswegen wahrscheinlich auch der laute knall. Als Jack die Tür öffnen wollte, bewegte sie sich keinen Zentimeter von der Stelle. „Sehr witzig Jack, hör auf mit dem Mist und öffne die Tür.“ Selbst in Mias Stimme war nun die Furcht deutlich erkennbar. „Jemand musste die Tür von außen verriegelt haben“, erklärte Jack und versuchte, dabei gelassen zu wirken, doch auch ihn war so langsam die Angst anzusehen. „Verarsch mich nicht und mach Platz“, Mitsch wurde wütend und drückte Jack zur Seite und stieß mit voller Kraft gegen die Tür. „Was macht ihr in meinem Haus“, schrie eine fürchterliche und grässliche weibliche Stimme. Als sich Mia blitzartig umdrehte und mit der Taschenlampe in den dunkleren Flur hineinleuchtete, stand dort niemand. Ein ekliges Schmatzen war hinter dem Lichtkegel zu hören. Die Gruppe wurde panisch und versuchte die Tür mit aller Kraft aufzubrechen, leider vergebens. Jack war mittlerweile kreidebleich im Gesicht und man konnte die Furcht fast schon riechen. „Wer zur Hölle ist da?“, reif Mitsch in den dunkleren Flur hinein, allerdings blieb seine Frage unbeantwortet. Jack war wie erstarrt und rührte sich nicht mehr. Mitsch wollte seine Hand von Sophia lösen, um zu kontrollieren, woher dieses fürchterliche Schmatzen kam, doch Mia wollte die Hand nicht loslassen und griff daraufhin nur noch fester zu. Mitch konnte nur die Ruhe bewahren, weil er daran glaube, dass sich irgendjemand einen Scherz mit ihnen erlaubt.
„Was habt ihr vor?“, flüsterte Mia, „seid ihr verrückt?“, fragte sie anschließend. Mitsch drehte sich um und schaute die beiden in die Augen und hielt sich den Finger vor dem Mund, anschließend flüsterte er, sie sollen ruhig bleiben. Als sie langsam weiter den finsteren Flur entlanggeschlichen sind, wurde das Schmatzen immer lauter und ein fürchterlicher beißender Gestank drang in ihren Nasen. Mittlerweile waren beide am alten Wohnzimmer angelangt, wo sie sich bereits vorher aufgehalten hatte, doch das Geräusch kam eindeutig aus dem Flur. Die Größe des Maison Hauses ähnelte einer großen Villa, beinahe einen Palast. Plötzlich berührte etwas Sophia am Rücken, woraufhin sie vor Schreck laut aufschrie. Selbst Mitsch zuckte unweigerlich zusammen und drehte sich ruckartig nach hinten um. Es waren nur Jack und Mia, die den Anschluss an die beiden nicht verlieren wollten. Als sich Mitsch wieder zum Schmatzen drehte, verstummte es plötzlich und es war eine Totenstille eingekehrt. „Was ist das dort?“, wurde panisch gefragt. Mitsch kniff die Augen etwas zu, um zu erkennen, was dort gerade in dem Licht der Taschenlampe trat. Eine fürchterliche, aussehende und blutverschmierte alte Frau, die irgendetwas aß. In der einen Hand hielt sie irgendetwas Funkelndes. Erst nach dem Genaueren hinschauen konnte Mitsch erkennen, dass es sich um ein Messer handelte, dass das Licht reflektierte. „Ihr werdet hier heute dafür sterben, dass ihr in unserem Hause eingebrochen seid.“ Die alte Frau warf etwas nach ihnen, doch zum Glück war die Gruppe noch in sicherer Entfernung. „Ist das ein Finger?“, dachten sich alle Anwesenden und waren sichtlich geschockt darüber. Plötzlich fing die alte Frau an zu schreien und hob ihr Messer und rannte auf die Gruppe zu. „Schnell in das Wohnzimmer“, schrie Mitsch. Als alle fluchtartig in das Wohnzimmer geflohen sind, schlossen sie die Tür hinter sich und Jack und Mitch stemmten sich davor. „Schnell schiebt den Schrank hier hin, denn wir müssen die Tür verbarrikadieren.“, schrie Jack. Für eine alte Dame hatte sie sehr viel Kraft und hatte beinahe die Tür öffnen können. Derweil schoben Mia und Sophia mit aller Kraft einen großen Schrank und wollten ihn vor die Tür umkippen. Die Klinge wurde durch die Tür gerammt und verfehlte Mitsch um ein Haar am Arm. „Macht schnell“, rief er. Als der Schrank umfiel, ertönte ein lautes Knallen und von der alten Dame und ihr Messer war nicht mehr zu sehen und zu hören. „Los Jack, hol noch mehr für die Tür. Wir sollten sichergehen, dass sie auf der anderen Seite der Tür bleibt.“, befahl Mitsch und übernahm ungewollt die Kontrolle über diese fürchterliche Situation. Als die Tür mit alles verbarrikadiert wurde, was sie finden konnten, kehrte eine unangenehme Ruhe ein. Das Pochen des Herzens war von jedem Einzelnen deutlich zu hören und instinktiv verstanden sie, warum deren Eltern es verboten haben, sich diesem Haus zu nähern. „Was sollen wir jetzt machen? Wieso habe ich mich nur zu so einer dummen Idee überreden lassen?“, meckerte Sophia vor sich hin. Jack, Sophia und Mia gingen hysterischen Auf und Ab und diskutierten lautstark darüber, was sie als Nächstes tun sollen. Mitsch hingegen suchte den Raum nach geeigneten Waffen ab, um sich verteidigen zu können. „Wir müssen unbedingt die Ruhe bewahren und zwei von drei Taschenlampen ausschalten, damit wir genügen Batterien haben. Sollten wir später nämlich kein Licht mehr haben, dann war es das mit uns. Sucht nach spitzen Gegenständen, nach irgendetwas, was man als Waffe benutzen kann. Ich verspreche euch, wir kommen hier lebend raus.“ Mitsch hat recht, entgegnete Sophia und half ihm beim Suchen. „Leute, was meinte die alte Frau mit unserem Haus, sind hier etwa noch mehr verrückte Menschen?“, fragte Jack panisch und schürte nur noch mehr Angst in der Gruppe. „Das Einzige, worüber wir uns Gedanken machen sollten, ist wie wir hier lebend rauskommen“, entgegnete Mitsch und zerbrach einen Tisch und deren Tischbeine. Diese vier Tischbeine konnten ideal als eine Art Knüppel genutzt werden, geeignet für die Verteidigung. Als er die Tischbeine an jedem verteilte, schenkte es ihnen ein wenig Mut, weil nun jeder eine Waffe in der Hand hielt. Mitsch schlug vor, weiter in das Haus hinein zu gehen, um dort möglicherweise einen anderen Ausgang zu finden. „Bist du Lebensmüde? Wir sollten hier einfach abwarten, zumindest bis die Sonne aufgeht“, schlugen Mia und Jack vor, ohne daran zu denken, dass die Sonne erst in acht Stunden aufgehen würde. „Ihr könnt hier gerne warten, doch ich werde einen Weg hier rausfinden“. Für einen Moment herrschte wieder Totenstille und jeder verstummte. Ein Pfeifen durchbrach die Stille, doch das Pfeifen kam weder aus dem Flur noch aus dem Wohnzimmer, in dem sie sich gerade befanden. „Hört ihr das?“, fragte Sophia und ging ganz dicht an die Wand und lauschte anschließend daran, „ich glaube, es kommt aus den Wänden“, flüsterte sie ganz leise. Als die anderen ebenfalls an der Wand lauschten, hielten alle den Atem an, damit sie die Geräusche besser wahrnehmen konnten. Plötzlich ertönte eine weitere Stimme, die sie nicht kannten. Es war eine alte Männerstimme, die sagte „Daddy wird sie holen und sie bestrafen, warte nur ab. Niemand bricht unbestraft in unserem Hause ein. Hol die anderen und dann gehen wir auf die Jagd“. Mia und Sophia weinten bitterlich und hatten Angst davor, was nun passieren würde. „Ich will hier nicht sterben“, sprach Mia heulend vor sich her. Jack, der immer auf stark und furchtlos tat, war nun wie verstummt und nicht mehr der den man einst kannte. Mitsch hatte damals einen Artikel darüber gelesen, dass die Natur eines Menschen erst dann offenbart wird, wenn man in sich einer Extremsituation befindet, und es schien so, als hätte dieser Artikel recht gehabt. „Niemand wird hier sterben“, sagte Mitsch und versuchte die Gruppe Mut zu machen. Ein lautes Klopfen gegen die verschlossene Tür ertönte plötzlich und alle zuckten zusammen. Das Klopfen hörte nicht auf und wurde immer stärker und lauter, so als würde jemand mit der Faust gegen die Tür hauen. Alle hielten ihren Knüppel in die Luft und waren bereit, sich zu verteidigen. „Verschwinde und lass uns einfach in Ruhe“, schrie Sophia mit einer ängstlichen Stimme, doch das Klopfen hörte nicht auf. „Hier ist der Sheriff, öffnet endlich diese Tür“, ertönte es plötzlich hinter der Tür. Der ängstliche Gesichtsausdruck jedes einzelnen änderte sich von Furcht in Hoffnung und dann in Freude um, als sie den Vater von Jack hinter der Tür hörten. Blitzschnell ohne nachzudenken, räumten sie die noch zuvor verbarrikadierte Tür frei, mit den Gedanken aus diesem Horror entfliehen zu können. Als die Tür endlich geöffnet war, leuchtete ein grelles Licht in die Augen der Kinder, es war die Taschenlampe des Scherriffs. „Geht es euch gut?“, fragte der Sheriff besorgt mit einer Hand an der Waffe, „ich habe euch doch Hunderte Male gepredigt, hier nicht herzukommen. Nun lasst uns von hier verschwinden.“ Seine Worte in Gottes Ohr, denn das war anstandslos die schlimmste Nacht ihres Lebens gewesen.
Als die Kinder endlich aus dem Maison Haus waren, stand der Sheriff noch ungefähr für eine Minute in der Türschwelle und schaute in das Haus hinein. Als alle im Auto des Sheriffs saßen und Richtung Heimat fuhren, mussten sich alle die Predigt ihres Lebens anhören. Kein Einzelner der Gruppe erzählte auch nur ein Wort im Auto, denn sie waren nur noch froh, dort raus zu sein. Als sie an Mitsch Haus angekommen waren, standen seine Eltern bereits vor der Haustür und warteten sehnsüchtig auf ihn. Doch bevor Mitsch aus dem Auto ausgestiegen war, fragte er noch, wie der Sheriff sie gefunden habe. Der Sheriff erklärte, dass er jedes Jahr dort kontrollieren fährt, weil es immer wieder welche gibt, die dort einbrechen. Beim Kontrollgang fand er dort einige leere Becher und eine leere Flasche, allein aus diesem Grund sei er ins Haus gegangen. „Ihr könnte froh sein, dass das Haus verlassen ist. Früher würdet ihr nicht so ungeschoren davonkommen, denn früher…“, der Sheriff unterbrach sich selbst mit einem Husten, „du solltest jetzt nach Hause gehen“. Als Mitsch endlich aus dem Auto gestiegen war, umarmten ihn seine Eltern, als hätten sie ihn schon seit mehreren Jahren nicht mehr gesehen. Über die letzten Worte des Sheriffs grübelte Mitsch noch die ganze Nacht. Ein sanftes Klopfen an der Zimmertür entriss ihn aus seinen Gedanken. „Deine Freunde sind alle Zuhause angekommen“, sprach seine Mutter, „nun schlaf jetzt“. Mitsch sprang aus seinem Bett und schaute seine Mutter mit einer ernsten Miene an und fragte, was in diesem Haus geschehen sei. Ohne eine Antwort und mit einem bedrückten Gesichtsausdruck schloss die Mutter die Tür von außen. Was auch immer dort geschehen war, war so schlimm, dass niemand darüber sprechen wollte. Nach so einer Nacht konnte Mitsch sich nicht einfach hinlegen und schlafen, denn er war noch viel zu aufgewühlt. Deswegen ging er an sein Fenster und schaute in die Nacht hinaus und wollte einfach nur noch das Vergessen, was heute geschehen ist. Als sein Blick durch die Nachbarschaft streifte, stand dort plötzlich eine alte Frau auf der Straße und schaute mit einem breiten Grinsen direkt in das Fenster von Mitsch. Es war die alte Frau aus dem Maison Haus.
Klopf Klopf
„Süßes oder Saures!“, rief ich laut, als sich die Tür öffnete und eine zierliche alte Frau heraustrat. Sie erinnerte mit ihren hochgesteckten grauen Haaren und blauen Augen an eine gute Fee, wie man sie aus Märchen kannte. Ich kannte sie nicht, stellte ich überrascht fest. War sie erst kürzlich hergezogen? Vergeblich versuchte ich mir ins Gedächtnis zu rufen, wer in diesem Haus sonst immer gewohnt hatte.
Währenddessen hatte die fremde Frau mit einem Lächeln etwas in meinen Beutel gelegt, das im spärlichem Abendrot nicht gänzlich zu erkennen war.
In den nächsten Momenten geschahen viele Dinge gleichzeitig. Die Tür schloss sich vor meiner Nase. Das Licht fing an zu flackern. In meinem Beutel leuchtete etwas bläulich auf. Und dann versank die ganze Welt in Dunkelheit.
Um mich herum verdunkelten sich die zuvor festlich beleuchteten Häuser, die Sonne schien abrupt hinter dem Horizont zu entschwinden. Weder Mond, noch Sterne waren am Himmel zu sehen. Die Kinder und Eltern, die noch vor wenigen Sekunden in kleinen Grüppchen durch die Straße gehuscht waren, waren verschwunden. Nur das Licht in meinem Beutel erhellte mein Umfeld.
Panisch klopfte ich an die Tür der alten Dame, die mir schon zuvor aufgemacht hatte. Wartete. Klopfte erneut. Wartete wieder. Nichts.
Ich drehte mich um. Mit einer Hand umklammerte ich den Anhänger meiner Kette, wie ich es immer tat, wenn ich Angst hatte. Er bestand aus einem kantigen schwarzen Steinsplitter, den ich einst in einer Gasse neben meiner Schule gefunden hatte.
Die Straße, die jetzt vor mir lag, schien keinerlei Ähnlichkeit mit der Straße zu haben, in der ich aufgewachsen war. Bei genauerer Betrachtung erkannte ich aber, dass sie hier nur menschenleerer war und… tot. Anders konnte man es nicht ausdrücken. In den Einfahrten standen keine Autos oder Fahrräder. Die Bäume waren skelettartig und blattlos. Nichts deutete auf Leben hin.
Das Licht in meinem Beutel stach grell in meine Augen, sodass ich es kaum wagte hineinzusehen. Vorsichtig leerte ich den Beutel in meiner Hand. Die gesammelten Süßigkeiten ließ ich achtlos zu Boden fallen. In meiner Hand lag nun ein kleiner Kristall, in dem eine winzige Flamme zu lodern schien.
Damit hättest du nicht gerechnet, oder?, wisperte eine Stimme.
Überrascht sah ich mich um, doch ich konnte nirgendwo den Besitzer dieser Stimme sehen.
Mach dir keine Umstände, ich bin hier unten. Hier! In dem Kristall! Na endlich.
Entsetzt ließ ich den Kristall fallen.
Aua! Spinnst du?! Du Tölpel von einem Menschen!
„Sorry“, murmelte ich beleidigt und bückte mich, um den Kristall aufzuheben.
Also wirklich!, erboste sich die Stimme.
Die Stimme verfluchte mich auf die verschiedensten Arten, aber über ihr Fluchen hinweg ertönte noch ein anderes Geräusch, dass mich sehr viel mehr verstörte. Eine Art Brüllen, das ich einem mir bekannten Wesen nicht zuzuordnen vermochte.
„Was“, fragte ich die Stimme aus dem Kristall entsetzt, „ist das?“
Das Geräusch ertönte erneut. Näher diesmal. Und nun wurde ihr geantwortet.
Es ist besser, wenn du es NICHT weißt. Glaub mir. Jedenfalls ist es empfehlenswert für die Gesundheit. Du solltest lieber anfangen zu laufen. Ja. Ja, so ist gut. Vielleicht etwas schneller? Gut. Da! Siehst du das Haus da? Da solltest du rein… sofort. Und jetzt würde ich an deiner Stelle ganz leise sein…
Ich stand nun direkt hinter der Haustür besagten Hauses. Das Licht in meiner Hand flackerte unruhig und ich musste meine andere Hand darüber legen, damit es wenigstens ein bisschen gedämmt wurde.
Kein Geräusch drang durch die Tür und doch hatte ich das Gefühl, dass das Wesen (was es auch immer war) sich auf der anderen Seite befand. Und dann hörte ich es: ein leises Klopfen.
Lauf
Und ich rannte. Rannte, so schnell ich nur konnte die Treppe in der Hausdiele hoch, durchquerte
mit drei langen Schritten einen langen hohen Raum, der mit Holz ausgekleidet war, bis ich am Ende in einen großen, leer stehenden Raum gelangte. Das Licht in meiner Hand war ausgegangen, als ich los gerannt war. Eine Tür war nicht zu sehen. Ich saß in der Falle.
Von unten drang kein Geräusch herauf, doch wie auch schon vorher hatte ich das Gefühl, dass das Wesen sich dennoch im Haus befand. Panisch drehte ich mich um meine Achse, auf der Suche nach einem Fluchtweg, doch ich konnte kaum noch die Hand vor Augen sehen. Der Kristall fing wieder an zu leuchten. Ein Fenster, das ich bis vor wenigen Augenblicken wegen der Dunkelheit nicht erkannt hatte, warf das blaue Licht zurück. Der Anhänger um meinen Hals stach in meine Hand, so fest hielt ich ihn.
Ich hatte keine Wahl… und zerschmetterte das Fenster mit meinem Ellbogen und sprang. Der Fall verlief relativ gut. Der Aufprall auf die harte Erde des Hinterhofs tat dafür umso mehr weh. Stöhnend richtete ich mich auf und kletterte über eine niedrige abgestorbene Hecke, die jenen Garten von denen der Nachbarn trennte. Immer wieder änderte ich die Richtung, um meinen Verfolger abzuschütteln, bis ich irgendwann auf eine ebenfalls leere Straße traf, die ich aber nicht wiedererkannte.
Schwer atmend stützte ich mich auf meine Knie. Die Hand, in der ich gerade den Kettenanhänger gehalten hatte, brannte. Ich hielt in ihr nun den Halloween-Beutel, in dem sich der Kristall befand. Er hatte schon seit einer Weile keinen Laut mehr von sich gegeben und auch nicht wieder geleuchtet. Auch jetzt schwieg er und blieb dunkel. Dabei konnte ich sein Licht gerade jetzt gut gebrauchen. Ich hatte am eigenen Leib zu spüren bekommen, wie schwer es war, sich ohne Orientierung durch die Dunkelheit zu tasten und ich hatte keine Lust, mich nochmal solch einer Tortur auszusetzen.
Während ich meine Kräfte sammelte, geriet ich ins Grübeln. Warum hatte der Kristall eben geleuchtet? Oder genauer gesagt: Konnte ich das Leuchten des Kristalls kontrollieren? Ich spielte die ganze Szene noch einmal in meinem Kopf ab. Ich hatte Panik bekommen. Das konnte es nicht sein, da ich noch immer vor Nervosität zitterte. Und dann hatte ich mich gedreht. War es das? Musste ich mich drehen oder wenigstens in eine bestimmte Richtung blicken, damit der Kristall wieder aufleuchtete? Ich entschied, diese Theorie gleich mal auszuprobieren. Erst drehte ich mich einfach im Kreis und tatsächlich: der Kristall leuchtete. Nun änderte ich meine Position um einige Schritte und drehte mich wieder. Dann war ich mir sicher. Ich musste in eine bestimmte Richtung blicken.
Ach, schon gemerkt, höhnte die Stimme. Bist ja ganz schlau.
An dieser Stelle unterbrach sie sich durch ein leises Gekicher, das eindeutig hämisch war.
„Was war das für ein Wesen“, fragte ich so leise ich konnte, ohne zu flüstern. Nachdem ich wusste, dass ich hier nicht allein war, wollte ich nicht mehr auf mich aufmerksam machen, als nötig.
Falls du den Fachbegriff hören willst, muss ich dich leider enttäuschen. Den kenne ich nicht. Was ich weiß ist, dass sie für Menschen gefährlich sein können. Lebensgefährlich, versteht sich. Sie sind wie Parasiten.
Parasiten…?
Ja, du hast mich richtig verstanden. Einer von ihnen beißt dich, dann bist du infiziert. Wirst du noch einmal gebissen, kann dieses Wesen andere Lebewesen infizieren.
Mir wurde schlecht.
Aber bleiben wir positiv! Inzwischen sollte der Großteil von ihnen ausgestorben sein.
Ich verstand nicht ganz, inwiefern mir das weiterhalf.
Je weniger es gibt, desto unwahrscheinlicher ist ein weiteres Zusammentreffen! Muss ich denn wirklich alles erklären? Dennoch solltest du nicht mehr blindlings durch die Gegend laufen. Im Gegensatz zu dir haben sie hier ausgeprägte Orientierungsinstinkte.
Hieß das, ich solle weiter in die Richtung laufen, in der der Kristall leuchtete?
Ja, so in etwa war das gemeint. Was hast du auch für eine andere Wahl? So wie ich das sehe, kennst du dich hier kein bisschen aus und hast auch keinen Schimmer, wie du zurück in deine Welt kommst.
Meine Welt? Was sollte das nun wieder heißen? Obwohl… jetzt wo ich darüber nachdachte, schien mir diese Formulierung nicht mehr ganz so unpassend.
Aber war es wirklich schlau, sich einer mysteriösen Stimme in einem Kristall, einem leblosen
Gegenstand, unterzuordnen?
Ich verwehre mich gegen diese Bezeichnung. Und um auf deine Frage zurückzukommen: ja, das wäre es durchaus. Schließlich kenne ich mich hier weitaus besser aus als du!
Erst jetzt fiel mir auf, dass ich meine Fragen seit längerer Zeit nicht mehr mündlich formuliert hatte, doch wenn man sich an einem dunklen Ort mit tödlichen Kreaturen befand, schien die Erkenntnis, dass die Stimme meine Gedanken lesen konnte, weitaus weniger wichtig.
Und die Stimme hatte ja Recht. Ich hatte keine andere Idee, was ich tun sollte. Und so war es entschieden.
Mit schnellen Schritten ging ich immer weiter in die Richtung, in der der Kristall leuchtete. Während ich lief, bahnte sich langsam ein Verdacht durch meine aufgewühlten Gedanken. Nervös spielte ich mit dem Anhänger um meinen Hals, bevor ich der mysteriösen Stimme meinen Verdacht gedanklich eröffnete.
Nein, ich bezweifle, dass die alte Frau in deiner Straße dich hierher geschickt hat. Ich glaube sogar, sie hat versucht, dir zu helfen, indem sie dir mich mitgegeben hat, antwortete die Stimme. Aber warum sonst war ich hier gelandet?
Ganz ehrlich: ich habe nicht die leiseste Ahnung. Und das ist beunruhigend, setzte sie hinzu.
Die nächsten Minuten verliefen ereignislos und obwohl ich meine Sinne aufs Äußerste geschärft hielt, konnte ich kein Geräusch in der Umgebung erfassen. Ich versuchte, möglichst unauffällig zu sein, indem ich durch schmale Gassen streifte, die ich in meiner Welt sonst nie genommen hätte. Du trägst einen leuchtend orangenen Kürbis-Anzug. So viel zum Thema „unauffällig“.
***
Ich lief nun schon seit längerer Zeit durch diese Geisterstadt und inzwischen war ich hungrig, erschöpft und hatte Durst. Doch die Stimme im Kristall hetzte mich immer weiter und je weiter wir kamen, desto nervöser klang sie. Inzwischen drang sie mich zum Rennen, sodass ich ahnte, dass wir verfolgt wurden. Jedoch wagte ich es nicht, zu fragen, da ich selbst die Antwort fürchtete.
Schneller!
Als ich endlich den Mut aufbrachte, sie zu fragen, warum ich rannte, antwortete sie erst nach einigen Momenten.
Wir werden verfolgt.
Das war die Bestätigung. Ich riss die Tür des nächsten Hauses auf, verbarrikadierte sie mit der Kommode, die daneben stand und rannte auf die andere Seite, wo ich ein Fenster öffnete und wieder hinauskletterte.
Was genau hat das jetzt gebracht?, fragte die Stimme irritiert.
Das war einer der typischsten Täuschungsversuche, um von seiner Fährte abzulenken und ich hoffte inständig, dass sie auch in der Praxis funktionierte.
Ich befand mich nun auf einer etwas breiteren Straße, die parallel zu der Straße verlief, aus der ich gerade geflüchtet war. Ich ahnte, dass diese Straßen irgendwo eine feste Verbindung haben mussten, wie beispielsweise eine Kreuzung, also entschied ich, noch mehr Finten auszulegen. Das hieß: ich trat gleich mehrere Haustüren auf einmal ein und lief nur durch eine, um meine Verfolger zu verwirren. Ohne das Licht war ich jedoch nicht annähernd so schnell, also musste ich wohl oder
übel immer in dieselbe Richtung rennen. Wenn den Wesen das klar wurde, dann hatte ich verloren.
***
Stunden vergingen. Inzwischen hatte ich den Glauben, diese Welt jemals wieder zu verlassen, nahezu aufgegeben. Die Stimme in dem Kristall hatte sich nach einiger Zeit Entwarnung gegeben. Erschöpft schlurfte ich durch eine mir unbekannte Straße, als die Stimme sich wieder meldete.
Es ist nicht mehr weit.
Diese Worte ließen mich aufhorchen. Es war nicht mehr weit. Meine Heimat war nicht mehr weit. Dieser Gedanke gab mir wieder Kraft. Die Müdigkeit, der Hunger und die Erschöpfung waren vergessen. Ich lief bei dem Gedanken sogar wieder schneller.
„Es ist nicht mehr weit. Es ist nicht mehr weit“, wiederholte ich immer wieder in meinem Kopf. Nicht mehr weit. Nicht mehr weit. Nicht mehr weit. Nicht mehr…
Oh.
Vor mir lag ein relativ kleiner Platz, den ich von meiner erhöhten Position gänzlich überblicken konnte. Direkt vor mir schien die Straße plötzlich abzufallen. Hinter dem Platz waren Berge, die sich rechts und links so weit das Auge reichte, erstreckten, aus einem kantigen schwarzen Gestein, das mir seltsam bekannt vorkam. Die Oberfläche der Berge war gespickt mit willkürlich angeordneten, unterschiedlich großen Löchern, die ins Berginnere zu führen schienen. Auf dem Platz sammelten sich Hunderte von feucht schimmernden Kreaturen, die aus den Berglöchern krochen.
Das kommt unerwartet.
Der Platz an sich entsprach noch einigermaßen menschlicher Architektur, außer dass sich etwa in der Mitte ein großes Loch befand, dass tief in die Erde hinein zu reichen schien. Auf dem restlichen Platz befanden sich nur noch kleinere Variationen dieses Loches, die, wie auch das große, von den Kreaturen gemieden wurden. Wer konnte es ihnen verübeln?
Gebannt beobachtete ich die Wesen. Auf ihrer hellgrauen Haut schienen sie noch einzelne Farbkleckser zu besitzen, die aber nicht sonderlich hervorstachen. Sie hatten mehrere lange Arme oder Beine, doch ich konnte nicht sicher sagen, wie viele.
Ich war wie erstarrt. Vor Schreck merkte ich sogar erst gar nicht, wie mir der Beutel mit dem Kristall aus der Hand glitt. Erst als er den Abhang in Richtung des Platzes hinabrollte, realisierte ich dessen Fehlen. Reflexartig wollte ich ihm folgen und vergaß dadurch jegliche Vorsicht. Ich knickte mit dem Fuß um und fiel. Der Aufprall auf den Boden drückte mir die Luft aus den Lungen, doch
ich musste den Beutel verfolgen, denn der Kristall war meine einzige Chance auf einen Weg nach Hause. Ohne sein Licht war ich verglichen mit den Kreaturen im Nachteil. Der Anhänger drückte mir schmerzhaft gegen den Hals, als ich auf die Erde fiel, und mir wurde spontan klar, warum mir das Gestein der Berge so bekannt vorkam.
Die ersten Wesen wurden bereits auf mich aufmerksam und krochen mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit auf mich zu. Ich aber hatte nur noch den Kristall im Kopf und rappelte mich ungeschickt auf, bevor ich ihm nachsetzte. Immer mehr dieser Wesen bemerkten mich und versuchten, mir den Weg abzuschneiden. Gerade so schaffte ich es, ihnen auszuweichen, doch immer mehr von ihnen bemerkten mich und liefen mir entgegen. Der Beutel war nur noch einen Meter entfernt…
Ich warf mich zu Boden und schnappte ihn mir. Schnell stand ich wieder auf, drehte mich um meine Achse…
Doch der Kristall leuchtete nicht.
Eines der Wesen warf sich gegen mich und ich knallte wieder auf den Boden. Als ich dessen fauligen Atem roch, musste ich unwillkürlich das Gesicht verziehen. Das Wesen selbst war neben mich gefallen und kam mühsam, aber schnell wieder auf. Ich riss mir den Anhänger vom Hals und stieß es ihm in den formlosen Kopf. Eine schwarze Flüssigkeit spritzte aus der Wunde und das Wesen schrie gequält auf. Gehetzt stand ich wieder auf und sah mich nach dem Kristall um, der am Rand des großen Lochs lag und gerade dabei war herunterzufallen…
Ohne einen weiteren Gedanken warf ich mich hinter ihm her und dann fiel ich. Alles wurde dunkel. Ich wusste nicht mehr, wo unten und oben war, bis ich mich in eine halbwegs waagerechte Position gebracht hatte. Unter mir leuchtete etwas in einem grellen Blau und ich verlor das Bewusstsein.
***
Tief atmete ich die frische Luft ein. Draußen ging gerade erst die Sonne auf, doch ich war nicht müde. Nach dem gestrigen Abend hatte ich genug Zeit gehabt, mich gründlich auszuschlafen. Nachdem ich letzten Abend vor dem Haus einer verreisten Nachbarin bewusstlos aufgefunden wurde, hatte man den Notarzt gerufen, der mich nach einer Untersuchung für gesund erklärte. Dennoch wurde meinen Eltern aufgetragen, darauf zu achten, dass ich in nächster Zeit genug trank, damit ich nicht noch einmal dehydrierte.
Nun fühlte ich mich ausgeschlafen und gesund. Nachdem ich einige Zeit so am Fenster stand und der Sonne beim Aufgehen zusah, nahm ich die Kette mit dem kleinen Kristall, der gestern neben
mir gefunden wurde, von meinem Nachttisch und legte sie mir um, woraufhin der Kristall kurz blau aufleuchtete.